Auszug aus dem Vortrag

Heiliger Krieg?

Eine Epoche deutscher Kriegsgeschichte

Erster Weltkrieg
Privatarchiv Hartmut Dinse

Die Haltung der Kirche und der Intellektuellen

Die Friedenszeit löste sich auf, als habe sie nie bestanden. Nichts hat den Frieden mehr gefährdet als die Gewissheit, dass der Krieg früher oder später kommen werde. Die einen – wie die Sozialdemokraten – fürchteten ihn und erwarteten die Zerstörung der Zivilisation. Auch bildende Künstler sahen schon zu Beginn des Jahrhunderts die drohende Katastrophe und den Untergang.

Es gab andere, die den Krieg herbeisehnten. Krieg als Ersatz für den Staatsstreich, der alle Zwecke der modernen Industriegesellschaft reduzieren sollte auf jenes Ziel, das für alles und alle die Lösung bringen sollte: den Sieg. Vom Krieg erwarteten viele die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme. 

Der Erste Weltkrieg war der erste Krieg, in dem die Intellektuellen und die Kirche eine politisch einflussreiche Rolle gespielt haben. Die Deutungseliten mischten sich nachhaltig in das Geschäft der Entscheidungseliten ein. Leider trugen sie mehr zur Eskalation als zur Moderation der Konflikte bei.

Die Bemühungen von Christen um internationale Verständigung und Sicherung des Friedens steckten noch in den Anfängen. Am 1. August 1914 sollte in Konstanz der „Weltbund für Freundschaft und Freundschaftsarbeit der Kirchen“ zusammentreten. Der Ausbruch des Weltkrieges setzte den Bemühungen ein Ende, bevor sie richtig  beginnen konnten, und nur dank seiner Beziehungen zum Hof konnte der Initiator, der Pastor und Sozialpädagoge Friedrich Sigmund-Schultze (1855-1969) allen 130 ausländischen Konferenzteilnehmern mit Hilfe eines Sonderzuges die Rückkehr in ihre Heimat ermöglichen. Es gelang ihm dennoch, zusammen mit dem Quäker Henry Hodgkin (1857-1933) im Dezember 1914 in Cambridge den „Internationalen Versöhnungsbund“ zu gründen. Doch dies ging in der allgemeinen Kriegsbegeisterung unter.

Geistliche wie der Berliner Hofprediger Bruno Döhring schürten die Begeisterung der Massen bei Kriegsausbruch. Tausende stimmten vor dem Berliner Dom in den Choral „Nun danket alle Gott“ ein. Oberhofprediger Ernst von Dryander verkündete weiter: „Wir ziehen in den Kampf für unsere Kultur – gegen die Unkultur! Für die deutsche Gesittung – gegen die Barbarei! Für die freie, an Gott gebundene Persönlichkeit  – wider die Instinkte der ungeordneten Massen. Und Gott wird mit unseren gerechten Waffen sein!“

In der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis wurde in ähnlicher Weise gepredigt. Hauptpastor August Wilhelm Hunzinger hatte häufig über schlechten Gottesdienst-Besuch und über eine schwindende Akzeptanz der Kirche im Bürgertum und bei der Arbeiterschaft geklagt. Jetzt – nach dem Ausbruch des Krieges strömten die Menschen in die Kirchen und die Hamburger in den Michel. Und was hörten sie hier?

Hauptpastor Hunzinger hielt am 5. August 1914, wenige Tage nach der Kriegserklärung des Deutschen Reiches, die erste seiner berühmten und berüchtigten Kriegspredigten im Michel über 2. Tim  2,5: „Und so jemand kämpft, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn recht.“ Hunzingers Predigten wurden zum Preis von 10 Pfennig zugunsten der Hamburger Kriegshilfe verkauft und später gebunden in den Buchhandlungen angeboten. Zu Beginn seiner Predigt nahm Hunzinger Bezug auf den Eintritt Englands in den Ersten Weltkrieg. Er behauptete, das englische Volk sei entschlossen, „die Waffen zu ergreifen für Slawen und Königsmörder, für halbasiatische Unkultur, für Treulosigkeit und Wortbruch und mutwillige Völkerrechtsverletzung – bereit den germanischen Stammesverwandten, protestantischen Glaubensbrüdern und westeuropäischen Kulturgenossen in ihrem verzweifelten Freiheitskampf in den Rücken zu fallen. Und das alles ohne Not, nur getrieben von der Unersättlichkeit des Eigennutzes, von der Gier des Krämergeistes.“ Und er fuhr fort: „Dass dieser Krieg für uns Deutsche seinem eigentlichen Charakter nach ein heiliger Krieg ist, das müssen wir uns tief in die Seele prägen – denn: ’so jemand kämpft, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn recht.’“

HP Hunzinger Kriegspredigten 18-10-1914
Privatarchiv Hartmut Dinse
HP Hunzinger Kriegspredigt 3-9-1916
Privatarchiv Hartmut Dinse
HP Hunzinger Zehn Kriegsgebote
Privatarchiv Hartmut Dinse

Am 6. September urteilte Hauptpastor Hunzinger von der Michel-Kanzel über die Kriegs-Gegner des Deutschen Reiches: „O lasst uns jubeln über jeden Sieg, aber welcher Edle kann jubeln ohne einen stechenden Schmerz über die satanischen Kräfte, die losgelassen sind auf unser Volk?“ In dieser Predigt sprach er auch vom Geist der Reinigung und der Läuterung, die dieser Krieg befördere. Und selbst als der Stellungskrieg schon Tausende von Opfern gekostet hatte und viele schon von der Sinnlosigkeit des Krieges zu sprechen begannen, waren von der Kanzel in St. Michaelis in der „82. Kriegspredigt“ vom 3. September 1916 noch Durchhalteparolen zu hören: „Wehe dem, der jetzt versagt! Wehe dem, in dem jetzt nicht alle Kräfte sich anspannen und alle Fibern zucken! Wehe dem, der jetzt den eigenen Vorteil über das Wohl des Vaterlandes stellt! … Wehe dem, der gleichgültig geworden und abgestumpft ist gegen den Krieg und gegen die Entscheidung des Kampfes! Wehe dem, der murrt und andere murren macht! Wehe dem Radaumacher, der dieses Murren auf die Straße trägt! Wehe dem, der jetzt nicht opfert, jetzt nicht alles einsetzt und sagt: Lass fahren dahin! Der andere die Blutprobe bestehen lässt, und nicht selbst Widerstand leistet bis aufs Blut.“ Erst Ende des Kriegsjahres 1916 schien Hunzinger sich zu mäßigen und wechselte in eine eher resignative Tonlage. Die sog. „Zehn Kriegsgebote“ scheinen in dieser Zeit entstanden zu sein.

Auch wissenschaftliche Theologen waren von dieser Art Kriegsenthusiasmus ergriffen. Reinhold Seeberg (1859-1935) verfasste eine Erklärung der „Hochschullehrer des deutschen Reiches“. Danach bestand zwischen dem Geist der deutschen Wissenschaft und dem preußischen Militarismus kein Unterschied.

Wie sah die rechtliche Lage der Kirchen in Deutschen Reich aus? Der Kaiser war das Oberhaupt der Kirche, er war summus episcupus. Zu seinen Pflichten gehörte die Verantwortung des Landesherrn für den äußeren und inneren Bestand der Kirche. Dazu gehörte auch das Kanzelrecht. Der Kaiser setzte Gottesdienste an, Kanzelerklärungen waren zu verlesen und er selbst formulierte Fürbitten, die in den Gottesdiensten gesprochen wurden.

In einem am 5. August 1914 selbstverfassten Erlass schrieb Wilhelm II., er habe ein reines Gewissen im Blick auf den Ursprung des Krieges, sei sich der deutschen Sache und vor Gott gewiss und fordere seine Untertanen dazu auf, sich mit ihm im Gebet zu vereinigen, in ernster Feier zur Anrufung Gottes, dass er mit uns sei und unsere Waffen segne.

Ein vom Kaiser verordnetes Kriegsgebet lautete: „Allmächtiger, barmherziger Gott! Herr der Heerscharen. Wir bitten Dich in Demut um Deinen allmächtigen Beistand für unser deutsches Vaterland. Segne die gesamt Kriegsmacht. Führe uns zum Siege und gib uns Gnade, dass wir auch gegen unsere Feinde uns als Christen erweisen. Lass uns bald zu einem die Ehre und die Unabhängigkeit Deutschlands dauernd verbürgenden Frieden gelangen.“

Auch die Römisch-Katholische Kirche stimmte in die Kriegsbegeisterung ein. So schrieb der Kölner Kardinal Felix von Hartmann 1915 in einem Hirtenbrief: „Wie viel Segen hat dieser Krieg nicht schon gebracht, und wieviel soll er noch bringen! Der Ruf unseres Kaisers … zu einem Kampf, in den er reinen Gewissens zog, der Gerechtigkeit unserer Sache vor Gott gewiss: war dieser Ruf nicht ein Ruf der göttlichen Vorsehung für uns alle? Unsere Krieger sind in den blutigen Kampf gezogen: Mit Gott, für König und Vaterland!“

Erzbischof Michael von Faulhaber sah in den Kanonen Sprachrohre der rufenden Gnade des listigen Gottes, der die Menschen durch den Krieg wieder zur kirchlich-christlichen Besinnung bringe.

Und selbst Carl Sonnenschein, ein durch sein Auftreten im Arbeitermilieu bekannter römisch-katholischer Priester, träumte von der führenden Stellung Deutschlands in der Weltpolitik nach der siegreichen Beendigung des Krieges.

Doch auch in den Kirchen der Kriegsgegner gab man sich nicht zimperlich auf den Kanzeln. So erklärte der Bischof von London, A.F. Winnington-Ingram, in seiner Predigt am 1. Advent 1915: „Um Freiheit, Ehre, Unschuld und Sittlichkeit in Europa zu verteidigen, müsse deshalb jetzt ein großer Kreuzzug geführt werden, um die Deutschen zu töten – nicht um des Tötens willen, sondern um die Welt zu retten. Getötet werden sollen die Guten ebenso wie die Bösen; zu töten sind die jungen Männer ebenso wie die alten; getötet werden sollen diejenigen, die sich gegen unsere Verwundeten freundlich verhielten wie auch jene Unmenschen, die … Maschinengewehre auf die Zivilisten in … Löwen richtete, weil andernfalls die Zivilisation der Welt getötet würde. Ich rede so nicht, um einen unchristlichen Hass auf die deutsche Rasse zu schüren … Ich tue es, um das Christentum zu verteidigen!“

In Russland wurde das Gerücht in die Welt gesetzt und vielfach geglaubt, dass der deutsche Kaiser menschliches Blut zu trinken pflege.

Nach dem Beschuß der Kathedrale in Reims – Krönungskirche der franz. Könige – durch deutsche Artillerie kam es in Frankreich zu Versuchen, den Krieg als Aggression des religiös degenerierten Deutschland gegen das angeblich wahre Christentum Frankreichs als der „ältesten Tochter der Kirche“ darzustellen. Die Vorwürfe gipfelten in der Behauptung, die deutsche Kultur sei atheistisch und heidnisch, roh und barbarisch und stehe der römisch-katholischen Kirche grundsätzlich feindlich gegenüber. Daher sei der Krieg ein Vernichtungskampf des Protestantismus gegen den Katholizismus, dem die deutschen Katholiken willig die Hand böten. Damit würden sie Hochverrat an ihrer Religion treiben.

Der Pariser Erzbischof Léon-Adolphe Amette meinte: „Wider Frankreich kämpfen heißt wider Gott kämpfen!“ In Frankreich erschien im April 1915 ein Buch „La Guerre allemande et le Catholicisme“, zu dessen Herausgebern neben katholischen Wissenschaftlern zwei Kardinäle und neun Bischöfe zählten und in dem der Krieg als Vernichtungskampf gegen Katholizismus und Christentum interpretiert wurde.

Vor der offiziellen Gegenschrift bedeutender deutscher katholischer Wissenschaftler und Publizisten unter Führung Kirchenhistorikers Georg Pfeilschifter (1870-1936) mit dem Titel „Deutsche Kultur, Katholizismus und Weltkrieg“ lag schon die anonyme Schrift „Ist Deutschlands Sieg zum Nachteil des Katholizismus?“ vor. Darin ist die Rede vom atheistischen Frankreich, vorn anglikanischen England und antirömischen Russland. Verfasser war der römisch-katholische Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger (1875-1921). Er, der 1917 die Friedensresolution des Reichstages betrieb und 1918 den Waffenstillstand unterzeichnete, war in der ersten Kriegsphase bezüglich des Ausmaßes der Kriegsziele kaum zu übertreffen.

Die Lage in  Deutschland:

Im Jubiläumsjahr der Reformation (1917) wurde der Krieg vielfach als ein Ringen um die Güter der Reformation dargestellt. Der Ausruf des Berliner Königlichen Hof- und Dompredigers Doehring in einer Predigt vom 27. Oktober 1918 „Das Königtum in Preußen ist uns Evangelischen tausendmal mehr als eine politische Frage, es ist uns Glaubensfrage“ war mehr als die Äußerung eines verstiegenen Einzelgängers. Für Katholiken wie Protestanten in Deutschland bestand 1914 kein Zweifel, dass der Krieg ein gerechter und notwendiger Verteidigungskrieg war.

Wie viele Intellektuelle, so hat auch der Theologe Adolf von Harnack zu Beginn des Ersten Weltkrieges die Politik des kaiserlichen Deutschland, die mit eine Hauptursache für den Ausbruch des Krieges war, vorbehaltlos mitgetragen und unterstützt.

Adolf von Harnack war ein bedeutender Kirchenhistoriker, dessen Forschung zur christlichen Dogmengeschichte bis heute nicht überholt sind. Und er war als Präsident der Preußischen Staatsbibliothek und der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“, die später in „Max-Plank-Gesellschaft“ umbenannt wurde, Organisator der Wissenschaftsförderung. Als die Weimarer Reichsverfassung ausgearbeitet wurde, war er entscheidend an der Formulierung der Artikel beteiligt, die das Verhältnis zwischen Staat und Kirche regelten. Sie sind bei der Abfassung des Grundgesetzes 1949 übernommen worden.

Harnack verfasste für Wilhelm II. den Kriegsaufruf im Sommer 1914. Es erscheint fast unmöglich, das Verführerische der Aufbruchstimmung, den Überschwang der Stunde des Kriegsausbruchs nachzuvollziehen. Der Enthusiasmus umfasste alle Schichten und. Klassen. Literaten, Wissenschaftler, die Kirche, die Parteien, alle ließen sich vom Begeisterungstaumel des August 1914 anstecken. Nach über vierzig Friedensjahren gewann die Abenteuerlust und das blinde Sich-Hineinstürzen ins große Gemetzel die Oberhand über die Ratio. Man war der Friedenszeiten überdrüssig und froh, „diese Welt des Friedens und. der cancanierenden Gesittung“ los zu sein. „Grässliche Welt, die nun nicht mehr ist … gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation?, so Thomas Mann, der sich sogar zur Feststellung verstieg, was begeisterte, „war der Krieg an sich selbst“.

Dem Krieg wurde läuternde Wirkung auf das Volk zugesprochen. Adolf von Harnack stellte noch 1918 die These auf , dass im Kriege „die niederen egoistischen Kräfte zurückgetreten“ seien, der „Auszug zum Krieg vom warmen Atem der Religion umflossen“ war. Hier schimmert die Überzeugung durch, dass die Sache Deutschlands und die Sache Gottes identisch seien. Auch von der Verklärung des Soldatischen wird der Theologe ergriffen. Er schwang sich zu der Behauptung auf, der „Tod, der freiwillig dargebracht wird, er tötet den großen Tod. und sichert das höhere Leben.“ Dazu zitierte er den Text einer Bach-Kantate , die wohl endgültig beweisen sollte, dass dieser Krieg eher einem Osterfest gleichkomme, nicht aber einem Karfreitag.

Stefan Zweig schrieb über jene Tage, „dass in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes es und. sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. Und. trotz allem Hass und Abscheu gegen den Krieg möchte ich d.ie Erinnerung an diese … Tage .. . nicht missen.“

Die „Ideen von 1914“, wie sie der Theologe und Historiker Ernst Troeltsch in seiner vielleicht folgenreichsten Schrift über diese Jahre beschrieb, verschafften der Intelligenz eine niemals vorher und nachher erlebte Identität des Gemeinschaftserlebnisses, man muss eine uneingeschränkte Bereitschaft des Geistes, sich bedingungslos der Macht unterzuordnen, konstatieren. Opferfreude und vaterländische Gläubigkeit sahen sich noch einmal ins Recht gesetzt.

Aber ob auch jeder Tag

Hunderte verschlinge,

Ungeheurer Wellenschlag

Hebt uns aus der Welt der Dinge.

Hebt uns alle zu der Welt

Männlichster Gedanken

Diese soll, ob alles fällt,

Nimmer in uns wanken!

schrieb Hermann Hesse im September 1914 in seinem Gedicht „Das Erlebnis“ nieder.

Noch im Herbst 1917 meinte Alfred Döblin im Rückblick auf den August 1914: „Der Krieg hat eine Volksgemeinschaft geschaffen, wie die langen Friedensjahre nicht. … Die Volksgemeinschaft hat sich erhoben über die Kasten und Stände. Ihre Kraft hat gesiegt, ihre Kraft wächst von Stunde zu Stunde.“

Karl Holl verfasste seine Schrift „Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben im deutschen Protestantismus.“ Der Titel ist hier zugleich Programm. Hier wurde mit nicht ermüdendem Elan die reinigende Kraft des Krieges beschworen, die ein metaphysisches Erwachen und. eine Neubesinnung auf geistige Werte im Sinne Fichtes garantierte. Kein Ereignis in der deutschen Geschichte ist so einhellig emphatisch, ist so wort- und vorstellungsgleich interpretiert worden, wie der Ausbruch des Krieges im August 1914. In diesem Zusammenhang sollte auch die Haltung Adolf von Harnacks und Hauptpastor Hunzinger in jenen Tagen gewertet werden. Sie drückte den Willen vieler deutscher Gelehrter und Geistlicher aus, beim Ausbruch eines Krieges das Vaterland zumindest verbal zu unterstützen. Es lag in der Konsequenz der nationalen Tradition europäischer Philosophie des 19. Jahrhunderts, sich in den Dienst der Nation zu stellen.

In allen europäischen Ländern rührte sich ein intellektueller Chauvinismus, gepaart mit der Überzeugung, dass der Kampf gegen die anderen rivalisierenden Mächte stellvertretend für die übrige Welt geführt werde und darüber hinaus den Charakter eines Kulturkampfes trage. Weiter erschwerend kam die wachsende Entfremdung Deutschlands gegenllber dem westlichen Ausland hinzu.

Dazu trug sicher auch die Fichte-Renaissance bei, die Deutschland erlebte. Fichte wirkte auf die Intellektuellen „aIs unübertroffenes Vorbild. des Willens zur rückhaltlosen Vereinigung der philosophischen Theorie mit der Sache der Nation, die damit zur schlechthin allgemeinen Sache erhoben wurde.“

Auch Harnack enthielt sich nicht dem allgemeinen Begeisterungstaumel der damaligen Zeit: „Und wenn jetzt der Krieg mit ehernen Schritten entgegenthront, wie nehmen wir ihn auf? Wir brauchen nur hinzusehen auf die Straße! Ruhig, kräftig und. schließlich auch jubelnd … so viel Egoistisches fällt ab, nur auf große Gesichtspunkte kommt es an … Wir treten in die Zeit der Opferfreudigkeit …“

In diese Tonlage stimmt auch der bildende Künstler Erst Barlach ein, als er schrieb: „die Opferstimmung war wie eine Erlösung. … Opfern ist eine Lust, die größte sogar. … Es ist eine Vergottung, Aufgehen im Ganzen, Erlösung.“

Vertreter der Kirche hofften zudem, die Läuterung der Menschen durch den Krieg werde zu einer Rückbesinnung auf die Religion und zu einer Rückkehr in die Gotteshäuser führen. Im Krieg und durch den Krieg, so die Erwartung, könnten selbst die Anhänger der Sozialdemokratie wieder zu treuen Christen werden.

Typisch für dies Haltung ist ein Beitrag von Martin Kiehr in dem kurz nach Kriegsbeginn erschienenen Heft der evangelischen Kirchenzeitung „Die Reformation“. Hier wird die Kriegserklärung zur Erlösung: „Vergeblich schrien die Sozialdemokraten ihren VORWÄRTS aus mit dem faulsten Frieden, der immer noch besser sei als der Krieg. ‚Deutschland, Deutschland über alles‘, rauschte es in den Straßen. ‚Hoch, Österreich‘, jubelte die Menge. Das war das deutsche Volk, wie ein Mann stand es auf, seinem Bundesgenossen zu danken, zu danken in donnernden Jubelrufen. Und siehe da: der furor germanicus fuhr in die Feinde.“ Für den Heidelberger Theologie-Professor und Geheimen Kirchenrat Ludwig Lemme war der Krieg ebenfalls mehr als nur der Weg zu einem größeren und mächtigeren Deutschland: Er mache „Schluss mit materialistischer Raffgier …sittlicher Korruption  … und dekadentem Ästhetentum.“

Auch Thomas Mann stimmt in diesen Chor ein, wenn er in seinen Gedanken im Kriege schreibt: „Der Krieg brachte eine Welt zum Einsturz, die es verdient hatte unterzugehen, die untergehen musste, damit die Menschen sich moralisch erholen und regenerieren konnten.“

Bemerkenswert ist die Erklärung der deutschen römisch-katholischen Bischöfe in ihrem Hirtenbrief vom 13. Dezember 1914: „Der Krieg ist ein Strafgericht für alle Völker … Der Krieg hat vor sein Gericht geladen die moderne, widerchristliche, religionslose Geisteskultur und hat ihren Unwert, ihre Hohlheit und Haltlosigkeit, ihre Schadhaftigkeit aufgedeckt. Aber auch in unser Vaterland war diese Kultur schon bedenklich eingedrungen und eine ihrem ganzen Wesen nach unchristliche, undeutsche und ungesunde Überkultur mit ihrem ganzen Firnis und ihrer inneren Fäulnis, mit ihrer rohen Geldsucht und Genusssucht mit ihrem ebenso anmaßenden wie lächerlichen übermenschlichen Tun, mit ihrem ehrlosen nachäffen einer fremdländischen verseuchten Literatur und Kunst und auch der schändlichsten Auswüchse der Frauenmode. Das ist unseres Volkes und daher unsere große und größte Schuld. Sie fordert Buße und Sühne.“

Das zur Buße auferlegte Opfer wurde unterschiedlich begründet. Dient es bei den Künstlern Ernst Barlach und Thomas Mann wie auch bei dem evangelischen Theologen Adolf von Harnack zur Erlösung von einer lähmenden Kultur, so benennt das römisch-katholische Hirtenwort die Hybris, sich als Übermensch zu begreifen.

Wenn nun aber Gott von allen Völkern Buße verlange, so werde er wohl denen zum Sieg verhelfen, die mit der größten Opferfreude und Opferseligkeit in den Krieg zögen. Und darin solle sich das deutsche Volk von niemanden übertreffen lassen.

Der alte gute Geist des deutschen Volkes, so predigte Pastor Nielsen am 5. August 1914 in Kiel, „ist noch da, ist wieder wach geworden. … Nun, da das Schicksal an die Pforten klopfe, nun ist wieder lebendig geworden, was eines Volkes Wert ausmacht: Opferwille, Treue, Ernst, Glaube. Jung und alt drängt sich zu den Waffen, keiner möchte zurückbleiben und niemand mag zurückhalten… Sei du, Herr, mit unserem Volk auf seinem schweren, opferreichen Wege! … Gib uns den Sieg, auf den wir hoffen. Gib unsern Streitern Mut und Glauben, dass sie treu ihre Pflicht tun bis in den Tod.“

Weltkrieg als Kulturkampf

Es ist schon angedeutet worden dass viele Intellektuelle im Kampf der eigenen Nation auch die Verteidigung der westeuropäischen Kulturwerte verbunden sahen.

Adolf von Harnack machte auch da keine Ausnahme. In seiner Rede die er auf der deutsch-amerikanischen Sympathiekundgebung am 1. August 1914 sah er die deutsche Kultur, mit der die englische und‘ amerikanische eng verknüpft sei, von einer „Kultur der Horde … des Haufens, der von Despoten zusammengeschart …“  werde, bedroht. Auch in dem Entwurf für den Aufruf des Kaisers an das deutsche Volk zum Ausbruch des Krieges, den zu entwerfen Harnack vom Staatssekretär Hans Delbrück ausersehen war, sprach er von der „Verteidigung deutscher Art gegen asiatische Halbkultur“. Diese Redewendungen wurden aber von Beamten, die den Text redigierten, gestrichen. Auch in den „Chicago Daily News“ erklärte der Theologe den Krieg gegenüber Russland. zu einem Kulturkampf. Gegen England und Frankreich treffe dies jedoch nicht zu.  Er warf aber England vor, die Deutschen und die Amerikaner bei der Verteidigung des europäischen Kulturerbes allein zu lassen. „Großbritannien reißt den Damm ein, der Westeuropa und seine Kultur vor dem Wüstensande der asiatischen Unkultur Russlands und dem Panslawismus geschützt hat.  England liefere das Abendland einer mongolisch-moskowitischen Kultur, der unorganisierten Masse, der Masse Asiens“ aus.

Die englischen Theologen, mit denen Harnack so lange Zeit intensive Kontakte pflegte, richteten ein in Form und Inhalt betont gemäßigtes Schreiben an ihren deutschen Kollegen. Wiederholt verwiesen sie darauf, wie verpflichtet man sieh Deutschland gegenüber fühlte. “… there is no people in the world that stands so high in our affection and admiratlon as the people of Germany.” Deshalb habe man mit Schmerz die Nachrichten von einer Ansprache Harnacks vernommen, “…in which you are said to have described the conduct of Great Britain in the present war as a traitor of civilization.” Harnack antwortet darauf, er habe den Begriff „Verräter der Zivilisation“ gegenüber England nicht gebraucht, aber er gebe sein Urteil über das Verhalten Englands richtig wieder. Nach diesem Schreiben, in dem Harnack noch einmal sein Desinteresse an einer weiteren Verbindung bekundete, brach der Kontakt ab.

Aufruf der 93

Um die feindlichen Anklagen im Ausland zu widerlegen und um dort auch Gehör zu finden, hielten die deutschen Gelehrten Kundgebungen für das geeignete Mittel. Am bekanntesten ist der „Aufruf der 93“ an die Kulturwelt vom 4. Oktober 1914. Verfasser und Initiatoren sind nicht mehr genau zu ermitteln, dennoch gehörte Harnack neben anderen zu den Erstunterzeichnern. Jedoch rückte er – im Gegensatz zu anderen Gelehrten wie Reinhold Seeberg – schon während des Krieges von der Form des Manifestes ab. In der Tatsache, dass 93 Gelehrte zu einer Blanko-Unterschrift bereit waren, spiegelt sich die Stimmung der damaligen Zeit wider. In April 1919 bemühte sich Hans Wehberg um eine Stellungnahme der Unterzeichner. Dies führte zu dem Ergebnis, das lediglich noch sechzehn Gelehrte zu dem Aufruf standen und 42 nicht mehr alle Passagen vertreten konnten. Zu ihnen kann auch Adolf von Harnack gezählt werden, wie aus einem Brief an Clemenceau hervorgeht. Zehn Unterzeichner zogen ihre Unterschrift zurück. 

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